von Michael Wendl
„Gegenüber einer Moral, die angstbezogene Unterscheidungen propagiert, haben theoretische Analysen einen schweren Stand. Angst ist, da sie die Ungewissheit der Sachlage in Gewissheit der Angst transformiert, ein selbstsicheres Prinzip, das keines theoretischen Fundaments bedarf. Sie kann, und zwar mit Recht, die Theorien dem Funktionssystem Wissenschaft zurechnen und sie danach unterscheiden, ob sie mit der Angst sympathisieren oder nicht. Die Beobachtungsposition einer Rhetorik und Moral, die sich auf Angst gründet, hat in der Nachfolge des alten Apriori der Vernunft eine unanfechtbare Selbstsicherheit.“ (Niklas Luhmann 1986)
Die erste Freihandelstheorie ist die von David Ricardo entwickelte Theorie der komparativen Kosten. Jedes Land soll sich auf die Produktion der Waren und Dienstleistungen konzentrieren und spezialisieren, die es relativ (!) zu anderen möglichen Produktionen am kostengünstigsten produzieren kann. Diese Produkte werden dann international ausgetauscht. Das ist das Theorem der komparativen Kosten und zugleich eine Begründung für die Entwicklung einer internationalen Arbeitsteilung durch den Freihandel. Auch an diesem Theorem in der Fassung von Ricardo gibt es von Seiten anderer Ökonomen Kritik. So zeigt z.B. Matthias Binswanger, dass das Theorem falsch sein kann, wenn es auf die landwirtschaftliche Produktion angewendet wird (Binswanger 2009), weil Boden im Unterschied zu Kapital nicht beliebig vermehrbar ist.
Die Weiterentwicklung dieses Theorems geht auf die Ökonomen Eli Heckscher, Bertil Ohlin und später Paul Samuelson zurück. Hier wird die Kombination und Entwicklung der Produktionsfaktoren Boden, Kapital und Arbeit für die internationale Arbeitsteilung unter den Bedingungen des Freihandels verantwortlich gemacht. Kapitalintensive Produktionsmethoden und arbeitsintensive Produktionsverfahren werden nach den jeweiligen Faktorkosten, also nach Kapital- und Arbeitskosten bzw. nach den Kosten der Rohstoffe international verteilt. Es kommt mit dem Freihandel zu einem Ausgleich der Faktorkosten, weil das Kapital in die Gebiete mit niedrigeren Arbeitskosten fließt, während das Kapital mit hoher Kapitalintensität in den entwickelten Industriegesellschaften bleibt (Faktorproportionentheorem). In der langen Frist, so hat Samuelson diese Sicht weiter entwickelt, sollen sich diese Faktorkosten durch eine entsprechende Mobilität der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit angleichen (Faktorpreisausgleichstheorem). 2005 hat Samuelson selbst diese Annahmen wieder in Frage gestellt, weil er zugibt, dass es auch Verlierer des Freihandels geben kann.
Diese neoklassischen Freihandelstheorien haben grundsätzliche Schwäche: sie beziehen die Größe der monetären Faktoren (Geld, Kredit und Wechselkurse) nicht oder nur unzureichend in die Analyse der unterschiedlichen Ausstattung der Gesellschaften mit diesen Produktionsfaktoren mit ein. Auch setzen sie sich nicht mit dem Aspekt der unterschiedlichen Nachfrage, die die Produktivität beeinflusst, auseinander. Diese Schwächen gehen auf das diesen Theorien zugrundeliegende ökonomische Modell oder Paradigma zurück, in dem Geld als „neutral“ für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen und die Rolle der Geld- und Kreditschöpfung bei der Finanzierung von Investitionen entweder ausgeblendet oder vernachlässigt wird. Auch wird einfach unterstellt, dass sich das Angebot die passende Nachfrage selbst schafft (das sog. Saysche Theorem).
In diesem Paradigma werden daher die Rolle des Kapitalimports, der Zinsen als Kosten des Kapitals und der Kursschwankungen der Währungen kritisch gesehen. Als es nach dem Ende des Abkommens von Bretton Woods 1973 (eines Abkommens 1944, bei dem sich Keynes mit seinen Vorschlägen für die Regulierung der Weltwirtschaft nicht durchsetzen konnte) und damit nach dem Ende eines Systems fester Wechselkurse zu einer raschen Deregulierung der Weltwirtschaft und zu flexiblen Wechselkursen gekommen war, hatte dies die Mehrheit der Entwicklungsländer mit einer massiven Verschuldungskrise in den 1980er Jahren bezahlen müssen. Der Aufstieg sog. Schwellenländer in der Weltwirtschaft der 1990er Jahre und danach war nach schweren Wirtschafts- und Finanzkrisen auch mit der nationalen Regulierung der internationalen Kapitalbewegungen und einer partiellen Abkoppelung vom Freihandel verbunden.
Diese Studien kommen zu absolut gegensätzlichen Ergebnissen. Die Ifo-Studien gehen davon aus, dass es in der langen Frist zu eher geringen Zuwächsen bei Wachstum und Beschäftigung kommen wird. Die Autoren dieser Studien kommen zu diesen Ergebnissen, weil sie die Effekte vorhergehender Freihandelsabkommen untersucht haben. Ob diese Ergebnisse allerdings belastbare Aussagen über TTIP ermöglichen, muss offen bleiben. Die Studie von Capaldo prognostiziert ausgesprochen desaströse Resultate für Europa, insbesondere für die nordeuropäischen Länder, aber auch für Deutschland, weil in diesen Studien davon ausgegangen wird, dass die USA bzw. die amerikanischen Unternehmen die großen „Gewinner“ des TTIP sein werden, weil sich die Konjunktur in den USA positiv entwickelt, während die Austeritätspolitik in der EU die Eurozone in eine schwere Wirtschaftskrise geführt hat. Capaldo kritisiert die in den Studien des Ifo-Institutes verwendeten makroökonomischen Gleichgewichtsmodelle und verwendet ein dazu alternatives, von der Entwicklung der effektiven Nachfrage gesteuertes Modell. Dieses basiert auf einer ziemlich einfachen Version des makroökonomischen Modells von Keynes, die unter den gegenwärtigen Bedingungen der Weltwirtschaft nicht realistisch ist, weil es von den Angebotsbedingungen der Produktion abstrahiert.
Die von der Böckler-Stiftung finanzierten Studien (siehe Beck/Scherrer 2013 und 2014) und insbesondere die FES-Studie von Flassbeck kritisieren die Prognosen der Ifo-Studien und schätzen, dass von diesem Freihandelsabkommen keine positiven Effekte ausgehen werden. Flassbeck weist wie Priewe darauf hin, dass der Einfluss der Wechselkurse viel ausschlaggebender für die wirtschaftliche Entwicklung von USA und EU sein wird als die Einschränkung von nicht-tarifären Handelshemmnissen. Aus der Sicht von Flassbeck ist die deutsche Politik einer Verbindung von fiskalischer Austerität und zurückhaltender Lohnpolitik eine Politik des „Beggar thy Neighbor“ und wird in der Verbindung mit der weiteren Abwertung des Euro gegenüber dem US-$ mögliche positive Effekte der Freihandels blockieren. Aus dieser Sicht wird aber die deutsche Exportindustrie an TTIP positiv partizipieren und die aus einer makroökonomischen Sicht bereits deutlich überzogene Exportorientierung der deutschen Wirtschaft weiter verstärken, was die labile Konstellation in der Weltwirtschaft mit hohen Leistungsbilanzsalden und damit Ungleichheiten zwischen den einzelnen Ländern zusätzlich verstärken wird. Zugleich wird es damit in der kurzen Frist ermöglicht, in Deutschland Beschäftigung zu sichern, ohne die effektive Nachfrage im Binnenmarkt zu erhöhen.
Aus einer makroökonomischen Perspektive sind daher die anvisierten ökonomischen Vorteile des TTIP ausgesprochen kritisch zu sehen. Es ist wahrscheinlich, dass die Wirtschaftsgesellschaften mit einer starken Exportposition und deshalb einer überlegenen internationalen Wettbewerbsposition die ökonomischen „Gewinner“ dieses Abkommens sein werden. Das würde die Zielsetzung der USA, den eigenen Außenhandel mit der EU auszuweiten und die erodierte industrielle Basis der US-Ökonomie über steigende Exporte zu stärken, in Frage stellen. In dieser Frage liegt auch Capaldo, der von Freihandelsgewinnen amerikanischer Unternehmen ausgeht, völlig falsch. Dass Vertreter der US-Politik sich solche Hoffnungen auf die Stärkung der industriellen Basis der USA machen, liegt daran, dass die Politik in dieser Frage nach wie vor der Sichtweise der neoklassischen Theorien weitgehend folgt und meinen, wenn die Produktionskosten sinken auch der Absatz entsprechend wachsen wird. Das gilt auch, wenn auch mit erheblichen Einschränkungen, für den eher dem Keynesianismus zuzurechnenden Ökonomen Paul Krugman (siehe Krugman, Obstfeld, 2009), der die Effekte des Freihandels insgesamt sehr differenziert beurteilt, aber in dieser Frage unter dem Strich der neoklassischen Sicht folgt.
In den Gewerkschaften wird TTIP wegen einer möglichen in der Zukunft liegenden Gefährdung von Arbeitsrechts- und Sozialrechtsstandards durch die Investor-Staats-Schiedsverfahren eher kritisch gesehen, während die fundamentalistische Ablehnung des Freihandels nicht geteilt wird, weil der deutsche Produktionskapitalismus auf den Export seiner Waren angewiesen ist. Die Gewerkschaften werden daher die laufenden Verhandlungen zu TTIP weiter kritisch begleiten, sie werden aber in der großen Mehrheit nicht gegen TTIP mobilisieren, weil die meisten der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigen einem solchen Aufruf nicht folgen würde, da die Unternehmen, für die sie arbeiten, in die Weltwirtschaft integriert sind. Ausnahmen sind hier die GEW und Teile von ver.di, die sich offen an der Mobilisierung gegen TTIP und CETA beteiligen. Auch für die SPD gilt, dass eine solche Polarisierung des Konflikts nicht mehrheitsfähig ist, weil sie zur Beendigung der Regierungsbeteiligung führen wird.
Claus Thomasberger, ein keynesianischer Ökonom hat als die „intellektuellen Wurzeln der Euro-Krise“ ein von der London School of Economics (LSE) ausgearbeitetes Konzept ausgemacht, das von den neoliberalen Ökonomen Lionel Robbins und F.A. von Hayek maßgeblich geprägt worden ist. Aus meiner Sicht haben dieses LSE-Konzept und die hinter dem TTIP stehende Freihandelsdoktrin viele Gemeinsamkeiten (Claus Thomasberger 2014).
Gegenwärtig erleben wir, in erster Linie ausgelöst durch die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung in den USA, die ein höheres Wachstums aufweist und der EU, die sich in einer Phase der Stagnation an der Grenze zur Deflation befindet, eine Abwertung des Euro gegenüber dem US-$. ZU der realen Abwertung durch die relative Lohnzurückhaltung Deutschlands in der Eurozone kommt noch eine nominale Abwertung. Diese kann es ermöglichen, dass es in Deutschland wieder zu höheren nominalen Löhnen kommt, weil der Wettbewerbsduck nach lässt und die Industriegewerkschaften diesem Freihandelsabkommen offener gegenüberstehen werden, wenn ihre politischen Bedenken berücksichtigt werden.
An den bestehenden wirtschaftlichen Problemen und Ungleichheiten in der Währungsunion wird sich dadurch nur wenig ändern. Die bereits zu einseitige Exportorientierung Deutschlands würde durch ein solches Abkommen weiter verstärkt werden. Andererseits ist die populistische Empörung über dieses Abkommen völlig überzogen. Vieles an den geäußerten Ängsten vor einem Abbau wichtiger Arbeitsrechts- und Sozialstandards oder vor einer Privatsierung der öffentlichen Daseinsfürsorge lässt sich nicht verifizieren, weil die entsprechenden Vereinbarungen noch nicht einmal verhandelt worden sind. Solche Ängste lassen sich aus den gleichen Gründen aber auch nicht verbindlich falsifizieren. Auch der Untergang der Welt lässt sich wirksam nicht ausschließen.
Literatur:
Stefan Beck/ Christoph Scherrer, Das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen (TTIP) zwischen den USA und der EU, Arbeitspapier Nr. 303 Hans-Böckler-Stiftung 2013
Stefan Beck/Christoph Scherrer, Das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen: Arbeitsplatzprognosen und Risikoanalysen, in: WSI-Mitteilungen 8/2014
Matthias Binswanger, Globalisierung und Landwirtschaft. Mehr Wohlstand durch weniger Freihandel, Wien 2009
Siegfried Broß, Freihandelsabkommen: einige Anmerkungen zur Problematik der privaten Schiedsgerichtsbarkeit, Hans-Böckler-Stiftung, Report Mitbestimmungsförderung Nr.4, Januar 2015
Jeronim Capaldo, The Trans-Atlantic Trade and Investment Partnership, Tufts University 2014
Gabriel Felbermayr u.a.. Dimensionen und Effekte eines transatlantischen Freihandelsabkommens, in: Ifo-Schnelldienst 4/2013
Gabriel Felbermayer u.a., Die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft(THIP): Wem nutzt ein transatlantisches Freihandelsabkommen? Teil 1: Makroökonomische Effekte, Gütersloh 2013, Bertelsmann-Stiftung
Andreas Fischer-Lescano, Johan Horst, Europa- und verfassungsrechtliche Vorgaben für das Comprehensive Economic and Trade Agreement der EU und Kanada (CETA), Bremen Oktober 2014
Heiner Flassbeck, TTIP, Freihandel und wirtschaftliche Entwicklung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Dezember 2014
Paul Krugman, Maurice Obstfeld, Internationale Wirtschaft, München 2009, Pearson
Jan Priewe, TTIP oder transatlantische Währungskooperation?, Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2014
Werner Raza u.a., Assessing the Claimed Benefits of the Transatlantic Trade and Investment Partnership, Final Report, ÖFSE 2013
Sabine Stephan, TTIP – Das Märchen vom Wachstums- und Beschäftigungsmotor, Friedrich-Ebert-Stiftung, Oktober 2014
Claus Thomasberger, Die intellektuellen Wurzeln der Euro-Krise, in: Sebastian Dullien, Eckard Hein, Achim Truger (Hg.), Makroökonomik, Entwicklung und Wirtschaftspolitik, Festschrift für Jan Priewe, Marburg 2014, Metropolis