5. November 2015
von Thomas Gutsche
Tatort Senegal
Neulich ging es in einem Tatort am Sonntag im Ersten um sog. „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus dem Senegal. Es war mal ein Guter Tatort, aber er blieb mir auch deshalb im Gedächtnis, weil ich zufälligerweise an demselben Tag auf Arte oder Phoenix eine Doku über ein Dorf im Senegal gesehen habe. Das Dorf existiert auf einer sandigen Landzunge im Meer, die langsam verschwindet, weil sie vom steigenden Meer (Stichwort Klimawandel) hinweggespült wird. Der frühere Broterwerb der Menschen dieses Dorfes, nämlich die Fischerei in eben diesem Meer, ernährt die Dorfeinwohner nicht mehr, weil Europäische Konzerne die See mit Lizenz der Regierung leerfischen. Im Rücken der Dorfbewohner, auf dem Land, können sie nichts mehr anbauen, weil dort europäische Konzerne das Land aufgekauft haben (Stichwort landgrabbing), um in einer riesigen Monokultur Sonnenblumen anzubauen für das schöne, günstige Öl, das wir dann im Lebensmittelgeschäft (will sagen: Discounter) kaufen.
In der Tat denken mehr und mehr Einwohner dieses Dorfes darüber nach, nach Europa auszuwandern/zu fliehen. Eine Flucht darf man das dann wohl nennen, wenn einem der Boden unter den Füßen weggespült wird und vorne und hinten sitzen Konzerne, die einem die Lebensmöglichkeiten beschneiden. Wenn diese Menschen es bis nach Europa oder gar Deutschland schaffen, werden sie aber als „Wirtschaftsflüchtlinge“ kein Recht auf Asyl haben, denn in ihrem Land gibt es schließlich keinen Krieg. Zwar auch keine Überlebensmöglichkeiten mehr, aber wenn wir schon mit den „richtigen“ Flüchtlingen aus Kriegsgebieten überfordert sind, können wir natürlich nicht auch noch solche Hungerleider aufnehmen.
Fluchtursache Klimawandel auch in Syrien
Die „richtigen“ Flüchtlinge kommen gerade vor allem aus Syrien. Ein Artikel der Taz (Sicherheitsrisiko Klimawandel – Erst Dürre, dann Krieg“ (1) geht auf eine US-Studie ein, dernach die Aufstände, die am Anfang des Syrienkonflikts standen, ihre Ursache auch im Elend von Menschen hatten, die wegen einer Dürre vom Land in die Städte geflohen waren. Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen, die internationalen Wirtschaftsstrukturen erweisen sich spätestens im Zusammenspiel mit den ersten Auswirkungen des Klimawandels als untragbar. Die Flüchtlingswellen von heute sind insofern nur ein sanfter Vorgeschmack auf das, was noch bevorsteht.
Neu ist das alles wirklich nicht. Reinhold Hemker, Ex-MdB der SPD und Entwicklungspolitiker, kommentiere meinen Link zum Taz-Artikel mit den Worten: „Wir haben im Bundestag in der Enquete-Kommission „Herausforderungen der Globalisierung“(2) schon vor 15 Jahren darauf hingewiesen und das auch begründet, warum es eine Kehrtwende in der Politik unter dem Leitgedanken von Willy Brandt „Das Überleben sichern“ geben muss.“ Aber in der „Realpolitik“ haben es solche Erkenntnisse natürlich schwer, durchzudringen. Doch kann jedenfalls, mal wieder, niemand behaupten, nichts gewusst zu haben.
Fluchtursache internationale Handelsstrukturen
Im Zusammenhang mit TTIP sei hier daher nochmals daran erinnert, dass solche Abkommen unabhängig von umstrittenen Fragen wie denen nach den Schiedsgerichten u. a. für die Länder der „Dritten Welt“ und teilweise auch die Schwellenländer nachteilig sind. Abkommen wie TTIP sind ein Zusammenschluss der Reichen und Emporkömmlinge gegen die Armen, eine Art Festung Europa auf dem Gebiet der internationalen Wirtschaft. Stattdessen wäre es, den politischen Willen vorausgesetzt, relativ einfach, die Handelsstrukturen bilateral gerechter zu gestalten. Weniger einfach ist der Weg über die WTO, aber vor allem deshalb, weil dort viele Länder etwas zu sagen haben und in den reichen Ländern der politische Wille fehlt, den anderen entgegenzukommen.
Der Diskurs, den wir jetzt brauchen
Gegen solche Politiker und die von ihnen irregeführte Öffentlichkeit müssen wir heute dafür sorgen, dass die internationalen Wirtschaftsbeziehungen und ihre Konsequenzen, Krieg und Flucht, in den Focus rücken. Vielleicht gibt die gegenwärtige Fluchtbewegung immerhin die Chance, ein einstiges Exotenthema (internationale Entwicklung) zu seinem Recht zu verhelfen. Ich kann mich noch erinnern, dass ein Kollege auf meine Bemerkung, Europa sei mir immens wichtig, damals antwortete: „Aber Europa interessiert keine Sau.“ Er hatte Recht. Das war aber noch vor der Bankenkrise.