Am Wahlabend war bei allen die Bestürzung über das schlechteste Ergebnis groß, bei Basismitgliedern, ebenso wie bei Mandatsträger*innen und Funktionär*innen. Dabei wurde schnell deutlich: Wir brauchen eine Erneuerung inhaltlicher, struktureller und auch personeller Art, die von der Basis getragen werden muss.
Als aber schon in den ersten Tagen und Wochen nach der Wahl in einem engsten Kreis machtpolitisch wichtige Personalentscheidungen fielen, war klar, dass dieser Appell nicht für alle gilt.
Das Parteipräsidium als Führungsspitze scheint vor dem Parteitag wieder hinter den Kulissen ausgehandelt zu sein. Es drängt sich die Frage auf: Wann soll die personelle Erneuerung stattfinden und wer entscheidet darüber?
Nach und nach wurden in den Wochen nach der Wahl Papiere veröffentlicht von jenen, die seit Jahren an führender Stelle Verantwortung für den Kurs der Partei und die taktische Aufstellung im Wahlkampf tragen. Papiere, in denen der Partei aufgezeigt werden soll, welcher Weg die SPD zu neuer Stärke führt. Fehleranalyse ist gut, aber man fragt sich, warum manche Forderung nicht vor der Wahl erhoben wurde und Debatten in der Partei angestoßen wurden.
Wenn es nicht ausschließlich um den eigenen Machterhalt, sondern um echte Erneuerung gehen soll, brauchen wir einen offeneren und transparenteren Prozess.
Seit Jahren vermitteln Studien, dass die Bevölkerung in Deutschland soziale Ungleichheit als großes Problem sieht. Das Handlungsfeld für die SPD wäre also eigentlich da. Problem ist, dass der SPD im Bereich der sozialen Gerechtigkeit zwar Kompetenz, nicht aber Glaubwürdigkeit unterstellt wird. Der SPD wird inzwischen unterstellt, Maßnahmen zur sozialen Gerechtigkeit aus taktischen Gründen, weniger aus Überzeugung zu treffen. So gelingt es der Partei nicht, die Kluft zwischen Arbeitnehmer*innen und Politik zu überwinden.
Bei den bisherigen Regionalkonferenzen wurde die Agenda 2010 als ein wesentlicher Punkt für den Glaubwürdigkeitsverlust der SPD genannt. Und es wurde unmissverständlich nach Korrektur von z.B. Hartz IV und den Folgen verlangt.
Wir müssen nicht nur die Umverteilung von unten nach oben stoppen, sondern wieder umkehren. Denn auch Ökonomen sagen uns: Wir können unseren Wohlstand insgesamt nur halten, wenn alle daran teilhaben können.
Dafür wird die SPD gebraucht. Die Existenzberechtigung der SPD liegt in ihrem selbstformulierten Ziel die negativen Folgen des Kapitalismus für die Menschen, vor allem die abhängig Beschäftigten und ihre Angehörigen, abzumildern und Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität durch gerechte Umverteilung und Teilhabe zu ermöglichen. Wenn wir das nicht glaubwürdig vertreten, verspielen wir unsere Daseinsberechtigung.
Der bisherige Kurs, angefangen mit der Hartz-Gesetzgebung über die Rente mit 67 bis hin zur Schuldenbremse und Einsparungen im öffentlichen Bereich mit all ihren negativen Auswirkungen für das alltägliche Leben der Menschen haben uns an die 20 % Marke gebracht. Wenn wir uns jetzt nicht auf unsere Kernkompetenzen besinnen, ist dieses Wahlergebnis leider keine Untergrenze. Dies kann bei unseren europäischen Schwesterparteien „besichtigt“ werden. Hoffnung wächst dort, wo in Europa Sozialdemokraten*innen tatsächliche sozialdemokratische Politik machen. Es lohnt sich nach Portugal und Großbritannien zu schauen.
Diese inhaltliche Klarheit braucht mehr Beteiligung für die Mitglieder, nicht nur im Prozess, sondern auch im Ergebnis. Wenn Anträge von einer Antragskommission im Sinne des Parteivorstandes gesteuert werden, hunderte Anträge der Parteigliederungen damit als erledigt erklärt werden, ist das für eine Mitgliederpartei ein Armutszeugnis. Wie soll so ein Ortsverein zu aktiver Antragsarbeit ermutigt werden?
Wir brauchen eine radikale Demokratisierung unserer Partei. Nur wenn die Partei nicht Top-Down, sondern Bottom-Up agiert, vielfältige Beteiligungsmöglichkeiten anbietet und flache Hierarchien hat, werden wir mehr Menschen zur Mitarbeit begeistern. Mitglieder brauchen mehr und effektive Mitbestimmungsrechte, sowohl über inhaltliche wie auch personelle Entscheidungen. Vorsitzende und Mitglieder der Antragskommission dürfen nicht bestimmt, sondern müssen gewählt werden, Mitglieder von Vorständen, insbesondere des Bundesvorstandes müssen ihr Abstimmungsverhalten offenlegen und Rechenschaftsberichte abgeben. Es muss allen klar sein, dass es in Zukunft nicht um Loyalitäten zu einzelnen Personen geht, sondern um Loyalität zur Partei.
Last but not least: Wir müssen die Parteistrukturen stärken, dort wo sie heute (zu) schwach sind. Wenn in weiten Teilen Ost- und Süddeutschlands kein SPD-Büro im Ort mehr zu finden ist, schlägt sich das in Wahlergebnissen nieder. Hier tut Unterstützung von der Parteispitze Not.
Selten war etwas so alternativlos wie der jetzt erforderliche Erneuerungsprozess der SPD: Mit dem Entwickeln eines klaren inhaltlichen Profil einer linken Volkspartei, mehr Mitbestimmung für Mitglieder, mehr Transparenz bei Entscheidungen und einer selbstverständlichen Offenlegung des persönlichen Abstimmungsverhaltens der Mitglieder von Gremien wie z.B. dem Parteivorstand.
Der Beitrag ist zuerst auf vorwarts.de erschienen.