Eine Gruppe von SozialdemokratInnen um Gesine Schwan hat ein Manifest für ein „europäisches“ Europa verfasst. Den Text, der am 01. Oktober 2015 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ erschienen ist, stellen wir euch hier zur Verfügung:
Europa ist inmitten seiner bislang schwersten existenziellen Krise. Die Abstimmung über einen Verbleib in der EU in Großbritannien und die noch immer nicht gelöste Euro-Krise können dazu beitragen, dass der Zusammenhalt der Europäischen Union weiter gefährdet wird. Gleichzeitig stehen weitere Mitgliedsländer unter dem Druck rechtskonservativer oder rechtsextremistischer und europaskeptischer Parteien, die bei einem Wahlerfolg dem britischen Vorbild nachfolgen dürften.
Die jüngsten Studien der OECD erkennen, mit Ausnahme der skandinavischen Länder, eine zunehmende soziale Spaltung in den europäischen Mitgliedsländern, die ebenfalls zu einer Stärkung der rechtsextremen Parteien beiträgt. Die Austeritätspolitik, die auf Druck Deutschlands alternativlos durchgesetzt wird, stärkt zudem Fliehkräfte, die das grenzenlose Europa erst schwächen und dann zerstören können.
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Darunter leidet auch ganz offensichtlich die Attraktivität der Europäischen Idee. Um dagegen anzugehen, haben sich die unterzeichneten Sozialdemokraten zur Veröffentlichung des folgenden Manifests entschlossen.
I. Welche Regeln in Europa?
Die Europäische Union gründet im freien Zusammenschluss der europäischen Staaten und im Respekt vor ihrer Vielfalt. Sie ist eine Antwort auf die Zerstörung Europas im zweiten Weltkrieg und auf eine deutsche Hybris, die sich das vielfältige Europa untertan machen wollte, nicht zuletzt durch Regeln und Ordnungsvorstellungen, die den Nachbarn aufgezwungen werden sollten. Diese Antwort wurde durch die Politik der Kanzlerin in den letzten Jahren zunehmend aufs Spiel gesetzt.
Sozialdemokraten wissen, dass ein friedliches gewaltfreies Zusammenleben nur möglich ist, wenn Menschen ihre gemeinsam beschlossenen Regeln beachten. Als rechtsstaatliche müssen sie demokratisch gesetzt und immer wieder an der Wirklichkeit gemessen werden. In der Europäischen Union müssen sie überdies Mindeststandards genügen, die auf den – auch sozialen und wirtschaftlichen – Grundrechten aller Menschen beruhen. Wo diese Mindeststandards von Regeln ignoriert werden, die ausschließlich fiskalischen oder finanzmarktbezogenen Stabilitätsinteressen dienen, widersprechen sie nicht nur dem Rechtsstaatsgedanken, sondern auch direkt dem EU-Grundlagenvertrag von Lissabon und stellen selbst Regelverletzungen dar.
Von der deutschen Bundesregierung unter der Führung von Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble werden demokratische und soziale Grundrechte der EU ignoriert. Sie unterwirft die Eurozone den Regeln einer neoliberalen Austeritätspolitik zum Schaden der Wirtschaften und der Gesellschaften insbesondere Südeuropas.
Die Bundesregierung will bei den europäischen Nachbarn ein Politik- und Wirtschaftsmodell durchsetzen, das sie im eigenen Land nicht praktiziert hat. Sie lässt nicht zu, dass die Ergebnisse der Wirtschaftspolitik, die ihren Regeln vor allem in den südlichen Ländern unterworfen wird, in den entscheidenden Gremien und öffentlich kontrovers diskutiert werden. Das widerspricht rechts- und sozialstaatlicher Politik ebenso wie dem politischen und sozialen Zusammenhalt in Europa.
Die Fehler der deutschen Europapolitik
Wir brauchen dagegen dringend ein „europäisches“ Europa, das der inneren Vielfalt demokratisch gerecht wird. Die Europäische Union wurde mit dem Ziel gegründet, politische, wirtschaftliche und kulturelle Unterschiede, gerade auch Unterschiede in der wirtschaftlichen Stärke, so miteinander zu verbinden und auszugleichen, dass ein gegenseitiger Nutzen entsteht. Wo unterschiedlich starke nationale Wirtschaften sich zusammentun, stellt sich immer die Frage danach, wie eine einseitige Konzentration von Macht und Vorteilen vermieden werden kann, damit die Schwächeren nicht zu Anhängseln der Starken werden. Ohne einen wirtschaftlichen und sozialen Ausgleich, der fair ausgehandelt werden muss, ist das nicht möglich. Angesichts der deutschen Vergangenheit in Europa ist die Lösung dieser Frage besonders dringlich.
Ein „europäisches“ Europa muss dafür demokratische Wege und Regeln der faktischen Zusammenarbeit finden und praktizieren, die den Respekt vor der Vielfalt, vor den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten und vor allem vor öffentlichen kontroversen Debatten über Alternativen dokumentiert, nicht zuletzt im europäischen Parlament. Die Vorherrschaft von Angela Merkels „marktkonformer Demokratie“, die durch freie Wahlen legitimierte Demokratien zugunsten von technokratischen Anordnungen zur Haushaltsstabilität beiseiteschiebt, führt zu einem „deutschen“ Europa, das das glückliche europäische Erbe nach dem zweiten Weltkrieg zu zerstören droht.
II. Deutsche Europapolitik ohne historischen Kompass – Vorrang wahltaktischer Ziele
Ohne historischen Kompass hat Bundeskanzlerin Merkel alle Weichenstellungen in Europa seit der Griechenlandkrise danach entschieden, wie ihre Wiederwahl am besten gesichert wird. Seit 2010 verschleppt sie eine nachhaltige Lösung für die Überschuldung Griechenlands durch die Auferlegung von „Hilfspaketen“, de facto von immer neuen Krediten, die letztlich die Überschuldung des Landes ins Gigantische gesteigert haben. Dabei ging es der Bundeskanzlerin und der sog. Troika darum, deutsche und französische Banken vor den Konsequenzen ihrer Kreditvergabe an Griechenland zu bewahren. Statt einer Insolvenz wurden deren Verluste in Form von Schulden der griechischen Bevölkerung zusätzlich zu den schon vor 2010 angesammelten Schulden aufgebürdet. Das „Hilfspaket“ verkehrte den Begriff „Hilfe“ in sein Gegenteil: die faktische Belastung der Griechen durch die Sozialisierung der angehäuften Schulden. Diese begriffliche Heuchelei dauert bis heute an, wenn man die neuen Kredite wider besseres Wissen erneut als „Hilfspaket“ für Griechenland bezeichnet, dem damit eben nicht geholfen wird. Damit täuscht man auch die deutsche Bevölkerung.
Die andere Seite des „Hilfspakets“, die gleichzeitig im Verein mit der EZB und dem IWF machtvoll als Auflage durchgesetzte Austeritätspolitik, verwehrt zusätzlich bis heute eine Rückzahlung der Kredite, wie sie am ehesten durch eine Investitions- und Wachstumspolitik möglich wäre. Sie fingiert, dass allein Einsparungen den Haushalt sanieren und die Rückzahlungen sichern könnten. Das ist sowohl in Griechenland als auch in Spanien und Portugal nachweisbar fehlgeschlagen. Vor dieser Empirie verschließen die Verfechter der Austeritätspolitik nicht nur die Augen, sie nutzen ihre Machtstellung in der Eurogruppe auch dazu aus, die Überprüfung des Erfolgs der Austeritätspolitik durch die Einforderung einer blinden Regelbeachtung zu vermeiden.
III. Deutsche Europapolitik in der Sackgasse
Die Vorbereitung eines dritten „Hilfspakets“ für Griechenland im Juli 2015, in der sich die Widersprüchlichkeit und die Konzeptlosigkeit der Merkelschen Europapolitik wie in einem Brennglas fangen, hat sie und damit Deutschland in eine europapolitische Sackgasse gebracht: Entweder die Bundeskanzlerin erzwingt, um den Eklat der Insolvenz und des Austritts Griechenlands aus der Euro-Zone zu verhindern, zukünftig immer neue „Hilfspakete“ auf Kosten der griechischen notleidenden Bevölkerung. Denn mangels effektiver Schuldenerleichterung – die Merkel wie Schäuble bis zum griechischen Referendum rigoros abgelehnt haben, die aber allein ein Klima für die notwendigen privaten Investitionen schafft – verschärfen sie die wirtschaftliche und politische Krise in Griechenland, anstatt zu helfen und erfordern deshalb immer neue „Hilfen“. Den Deutschen streut diese Politik der Griechenland-„Rettung“ Sand in die Augen.
Oder die Strategie von Schattenkanzler Schäuble, nach der Juli-Vereinbarung doch noch einen Grexit zu erreichen, setzt sich durch und stürzt das Land akut in die Ausweglosigkeit. Davon verspricht sich Schäuble offenbar die Chance, in der eintretenden Krise die Europäische Union nach seinen Vorstellungen neu zu ordnen. Finanzminister Schäuble weiß, dass die „Hilfspakete“ sich ohne Schuldenumstrukturierung verheerend auswirken, will diese Situation aber anscheinend dazu nutzen, Griechenland zum Verlassen der Eurozone zu zwingen. Aus der Unordnung soll ein neues „deutsches“ Europa entstehen.
IV. Merkel und Schäuble auf dem Weg ins „deutsche“ Europa
Sowohl Merkels als auch Schäubles Politik haben das unselige Ergebnis eines „deutschen Europa“ zur Folge: Die Bundeskanzlerin erschafft es schon seit Längerem durch die unbeirrbare Durchsetzung ihrer wahltaktischen Ad-hoc- und ihrer ideologisch bornierten Austeritätspolitik, die über Jahre hinweg vor allem in Südeuropa unnötiges Leid verursacht, Tausende von Jugendlichen um ihre Lebenschancen gebracht und bis heute einen für die Länder schädlichen Brain-Drain verursacht hat. Davon hat der deutsche Haushalt finanziell in erheblichem Ausmaß profitiert. Es ist eine Politik im kurzfristigen deutschen Interesse.
Sozialdemokraten nicken die Politik der Bundesregierung ab
Die Neuordnungsvorstellungen von Schattenkanzler Schäuble würden auf längere Sicht nur diejenigen europäischen Nachbarn als Mitglieder der Euro-Zone und damit des entscheidenden Kerns der EU akzeptieren, die seine legalistische Austeritätspolitik umzusetzen bereit sind. Er knüpft damit an sein mit Karl Lamers 1994 verfasstes programmatisches Papier mit dem Ziel eines „Kerneuropa“ an. Dessen damalige Absicht war zwar, nach der Vereinigung eine deutsche Dominanz über Europa zu vermeiden.
Unter den heutigen ganz neuen Bedingungen kann Schäuble diese Absicht aber nur so durchsetzen, dass sie de facto in ihr Gegenteil verkehrt wird: Wollten Schäuble und Lamers deutsche Dominanz nach 1989 durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich verhindern, so zeigen die Entscheidungen der letzten Jahre und das schwer aufhebbare ökonomische Ungleichgewicht zwischen beiden Ländern, dass diese Zusammenarbeit keineswegs ausgewogen ist. Vielmehr wird die deutsche Dominanz dadurch nur kaschiert und zugleich verstärkt. Ein so verstandenes Kerneuropa (damals Frankreich, Deutschland und die Benelux-Staaten, ohne Italien und Spanien!) ist zu klein, um gegen ein dominierendes Deutschland ein Gegengewicht zu bilden. Es wird stattdessen zum Durchsetzungshebel deutscher Politik.
V. „Deutsches“ Europa als regelfixierte Herrschaft der Technokraten: Gefahr für Demokratie und Vielfalt in Europa
In der Konsequenz Schäubles, der im Unterschied zu Angela Merkel eine europapolitische Strategie verfolgt, käme es zu einem „deutschen“ Europa der eisern zu befolgenden Regeln, ohne zu fragen, wohin sie führen, und ohne wirksame Mitsprache der europäischen Nachbarn. Erst recht ohne demokratische Entscheidungsverfahren. Juristische Kontrolle über einmal fixierte Regeln ersetzt in dieser Strategie pragmatische Überprüfungen und politische Aushandlungen. Zugleich würde legalistisch ein für alle Mal die deutsche Austeritätspolitik in Europa installiert. Deren Durchsetzung würde zunehmend Technokraten überlassen, die weder demokratisch gewählt noch verantwortlich sind. Politische und soziale Opposition dagegen würde unter dem Slogan „pacta sunt servanda“ irrelevant. Demokratie wird in Europa heute auch durch eine „finanzmarktkonforme“, auf die absolute Priorität von Haushaltsstabilität konzentrierte Technokraten-Strategie bedroht, wenn sie politische und soziale Grundrechte ignoriert.
VI. Alternativlose Politik? Sozialdemokratische Politik in der aktuellen Regierung
Bundeskanzlerin Merkel hat ihre Politik immer als „alternativlos“ erklärt und durchgesetzt. Die Sozialdemokratie hat in der Opposition dieser Alternativlosigkeit immer widersprochen. Sie hat die demokratieschädigende Idee der sogenannten „marktkonformen Demokratie“ und die Austeritätspolitik zu Recht gegeißelt und stattdessen eine demokratisch zu gestaltende Keynesianische Wachstumspolitik durch Investitionen gefordert.
Als kleiner Koalitionspartner in der Regierung trägt sie diese Austeritäts-Politik allerdings bislang weitgehend mit, mitsamt den aus sozialdemokratischer Sicht hochproblematischen „Reformen“ wie Rentenkürzungen, ungerechten Mehrwertsteuererhöhungen, Privatisierungen, der Unterminierung von Gewerkschaftsrechten und der Tarifautonomie und insgesamt einer Reduktion der innergriechischen Nachfrage, ohne die das Land jedoch wirtschaftlich nicht auf die Beine kommen kann.
Fünf notwendige Entscheidungen für Griechenland
Die Einforderung dysfunktionaler neoliberaler „Reformen“ und einer prozyklischen Austeritätspolitik verunklart die Substanz sozialdemokratischer Politik und handelt gegen die internationalistische Tradition der SPD. Sie steht auch im Widerspruch zur erfolgreichen sozialdemokratischen Politik in Deutschland. In der Krise 2009, in der ersten Großen Koalition, hat die SPD Keynesianisch mit Abwrackprämie und Kurzarbeitergeld zu Recht auf den Erhalt der deutschen (Auto)-Industrie gesetzt, und zuvor hat Bundeskanzler Schröder wissentlich das Maastricht-Kriterium des drei-prozentigen Haushaltsdefizits gerissen, um mit öffentlichen Investitionen von 20 Milliarden Euro in den Kommunen Arbeitsplätze zu schaffen. Diese Widersprüchlichkeit droht die SPD-Politik in Deutschland und in Europa unglaubwürdig zu machen.
VII. Klares Umsteuern in der Europapolitik durch die SPD auf Bundesebene erforderlich – kein „deutsches“, sondern ein „europäisches“ Europa!
Um der Menschen willen, die öffentliche Politik zu ihrer Unterstützung dringend brauchen, und um ihrer politischen Identität willen muss die SPD daher jetzt auf Bundesebene umsteuern. Die Bundeskanzlerin nämlich macht keineswegs einen „ausgezeichneten Job“, sondern schadet – Umfragewerte hin oder her – den einfachen arbeitenden wie arbeitslosen Menschen in Deutschland und in Europa ebenso wie dem wohlverstandenen langfristigen Interesse Deutschlands. Das findet seine Freiheit und seinen Wohlstand eben nicht in einem „deutschen“ Europa, das unerbittlich und blind auf Regeln pocht, den „hässlichen Deutschen“ in den Augen vieler Nachbarn wiedererstehen lässt und bei ihnen Sorge wie Misstrauen sät. Vielmehr liegt Deutschlands Zukunft in einem „europäischen“ Europa, das seine gemeinsame Freiheit und Sicherheit in der Freundschaft und im Vertrauen der Nachbarn findet, ohne die Deutschland 1989 nicht in Frieden seine Einheit hätte wiedergewinnen können.
In den nächsten Monaten und Jahren kommt es deshalb darauf an, engagiert für ein „europäisches“ Europa der Demokratie, der Gerechtigkeit, der Solidarität und des Wohlstands zu kämpfen, am Beispiel Griechenlands und im gesamten Europa.
VIII. Für ein „Europäisches“ Europa
Dazu muss Griechenland so schnell wie möglich in die Lage kommen, sich aus seinem Wirtschaftstief selbst herauszuarbeiten, die Arbeitslosigkeit zu überwinden und neue wirtschaftliche wie politische Perspektiven zu gewinnen. Dazu braucht das Land folgende Entscheidungen:
Eine verlässliche langfristige Perspektive für private Investoren, dass sich deren Investitionen in Griechenland rentieren können. Dazu gehört eine definitive Absage an den Grexit und eine Bekräftigung der Eurogruppe, dass Griechenland im Euro und die Währungsunion definitiv unumkehrbar bleiben. Dies würde einem „deutschen“ Europa à la Schäuble einen Riegel vorschieben.
Eine Schuldenerleichterung, die diese langfristige Investitionsperspektive plausibel macht, und zwar schnell und deutlich, damit die Wirtschaft nicht noch mehr bergab geht. So lange es keine Einigung unter den intern zerstrittenen Gläubigern gibt, schwebt auch weiterhin die Gefahr eines Grexit über der Eurozone. Eine Umstrukturierung der Schulden könnte die Schulden Griechenlands beim IWF und der EZB auf den ESM verlagern und die Laufzeiten mit einem lange verzögerten Tilgungsbeginn auf mehrere Jahrzehnte hin verlängern. So wie Deutschland seine Schulden vom Ersten (!) Weltkrieg erst 2015 zu Ende bezahlt hat. Wenn jedoch schon in wenigen Jahren erneut hohe Tilgungszahlungen fällig werden, bleibt die Investitionsperspektive verbaut.
Überdies müsste das Volumen des EU-Investitionsplans für Griechenland deutlich aufgestockt werden. Im dritten „Hilfsprogramm“ ist erneut mehr Austerität gefordert. Um diese nicht verstärkt rezessiv wirken zu lassen, müsste das Investitionsprogramm um mindestens die gleiche Summe erhöht werden, die jetzt ausgabenseitig eingespart werden soll.
Anstelle eines Mikromanagements von im Land abgelehnten Kürzungen, die als „Reformen“ ausgegeben werden, ist eine breite griechische Unterstützung von wirklich sinnvollen Reformen notwendig die deren griechische „ownership“ in Zusammenarbeit z.B. mit der OECD und der Task Force der Europäischen Kommission sichert, wie die Tsipras-Regierung sie bereits im Juni dieses Jahres vorgeschlagen hat. Dazu gehören u.a. Reformen des Justizsystems, des Antikorruptionskampfes, des Bodenrechts und Katasters, der öffentlichen Verwaltung, der Steuerverwaltung und der Sozial- und Rentenversicherungen, die in einem Wachstumsklima bekanntlich eher gelingen als in der Rezession.
Vor allem müssen das griechische Bankensystem und der freie Kapitalverkehr wieder zum Laufen gebracht werden. Deren Unterbrechung hat die griechische Wirtschaft erneut Milliarden gekostet. Die Kappung der ELA-Kredite im Juli erfordert nun eine Rekapitalisierung der Banken mit einem Betrag von ca. 25 Milliarden Euro.
IX. Europäische Schuldenkonferenz und Vertrauen in die Verantwortungsbereitschaft aller Europäer
Um die Wirtschaft nicht nur in Griechenland, sondern in allen europäischen Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit wieder anzukurbeln, ist ein nächster wichtiger Schritt eine europäische Schuldenkonferenz wie Jacques Delors, Pascal Lamy und Antonio Vitorino sie kürzlich vorgeschlagen haben. Das erfordert einen bewussten klaren Politik- und Perspektivenwechsel im Vergleich zur bisherigen manischen Kontroll-Strategie, die in ein „deutsches“ Europa führt, weil sie der Verantwortungs- und Demokratiefähigkeit unserer Nachbarn misstraut. Ein „europäisches“ Europa setzt deshalb auf die Verantwortungsbereitschaft, die Einsichtsfähigkeit, den Mut und das Engagement aller Europäer, nicht nur der deutschen oder der Reichen im Norden.
Solidarisches Europa in der Flüchtlingspolitik
Und es setzt vor allem darauf, dass die deutsche Gesellschaft solidarischer und weniger misstrauisch ist, als dies die Bundeskanzlerin vermutet. Eine solidarische Europapolitik würde von den Deutschen genauso positiv beantwortet werden wie die Herausforderung durch eine ständig steigende Zahl von Flüchtlingen, wenn nur die Regierung nicht dauernd abwehrte und Misstrauen gegenüber den europäischen Nachbarn säte. Die undurchdachte Politik der Bundeskanzlerin, die in der Flüchtlingspolitik zwischen kurzatmiger Großzügigkeitsdemonstration und ebenso kurzatmiger administrativer Umsteuerung auf strikte Grenzkontrolle hin- und herschwankt, zeigt, wie man das kostbare Potenzial der gesellschaftlichen Solidarität durch Strategielosigkeit und Mangel an ernsthafter Umsetzung verspielen kann. Dagegen muss die Sozialdemokratie eine Flüchtlings- und Europapolitik verfolgen, die wirklich durchdacht ist und nur so wirksamer Solidarität überzeugend zu dienen vermag.
Die Haltung der Deutschen ist besonders wichtig, weil wir eine hohe Verantwortung tragen und weil von hier aus ein positiver Elan der Solidarität auch auf andere europäische Regionen ausstrahlen kann. Das ist zentral für die Entwicklung der gesamten Europäischen Union. Dieser Elan fehlte bisher.
X. Neuansatz in der Flüchtlingspolitik: Chance für ein sozialdemokratisches Umsteuern zugunsten eines solidarischen Europa
Der französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron hat es kürzlich offen ausgesprochen: Ohne die Bereitschaft zur Solidarität, die auch Ausgleichszahlungen einschließt, haben die gemeinsame Währung des Euro und die Europäische Union keine Zukunft. Macron hat das Tabu, mit dem die Union diese Einsicht seit Beginn der Finanzkrise belegt hat, dankenswerter Weise gebrochen. Die deutsche Sozialdemokratie sollte ihm unmissverständlich beipflichten und diese vorzügliche Chance für ein Umsteuern in der deutschen Europapolitik entschieden nutzen.
Dazu, einen solidarischen Neuanfang in Europa zu wagen, kann uns die Reaktion der Deutschen auf das Elend der Flüchtlinge ermutigen. Die positiven Erfahrungen, die sie in der Praxis einer Willkommenskultur für sich selbst machen, zeigen ihnen, welches Potenzial an Freude die Solidarität birgt. Anders als mit dem bisherigen strikten Abweis von Solidarität und Ausgleich innerhalb der EU können Sozialdemokraten – unter der Voraussetzung einer durchdachten Strategie – jetzt bei den europäischen Nachbarn überzeugender für mehr Solidarität gegenüber den Flüchtlingen und für eine konstruktive und weitsichtige Flüchtlingspolitik werben.
Angesichts der eher zunehmenden Krisen in der Welt, wäre es nämlich eine Illusion anzunehmen, dass die dramatischen Flüchtlingswanderungen bald aufhören. Deshalb ist es kontraproduktiv, immer wieder verbal abwehrend und ausgrenzend zu reagieren. Stattdessen sollten wir in Deutschland und in der EU die Chance ergreifen, endlich ein vernünftiges Einwanderungsgesetz zu verabschieden, um Wirtschaftsflüchtlingen eine legale Einwanderungschance zu bieten und sie nicht auf den falschen Weg der Asylsuche zu zwingen.
Zugleich müssen wir beherzt einen neuen Blick auf Fremde, Flüchtlinge, überhaupt auf Menschen richten: Sie sind – in unserem eigenen wohlverstandenen Interesse – nicht prinzipiell als Belastungen zu betrachten, sondern als mögliche Bereicherung willkommen zu heißen. Sie bringen neue Ideen, wir können Freude empfinden an den Begegnungen mit ihnen und an ihrer Freude, bei uns einen neuen Anfang machen zu können. Das muss natürlich mit einer weitsichtigen Arbeitsmarktpolitik einhergehen und mit realistischen Kostenangaben sowohl für innerdeutsche Maßnahmen als auch für die Unterstützung der Regionen z. B. in Südosteuropa, damit potenzielle Wirtschaftsflüchtlinge dort eine Lebensperspektive entwickeln können.
Angesichts unserer demographischen Entwicklung ist das Boot noch lange nicht voll. Zugleich müssen wir alles tun, damit die Heimat der Flüchtlinge wieder Frieden findet und aufgebaut werden kann. Denn Heimatlosigkeit tut weh, selbst wenn wir die Flüchtlinge hier herzlich aufnehmen. Viel wichtiger als bisher müssen wir auch deshalb die Entwicklungszusammenarbeit nehmen.
XI. Wege der engeren Integration in Europa – hilfreiche deutsche Beiträge
Die immer erneuten Krisen in der Euro-Zone stellen uns nun dringend die Aufgabe, in der europäischen Union demokratisch enger zusammenzuarbeiten und gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Dazu gehört ganz wesentlich, die Politik der Euro-Gruppe transparent und durch die Öffentlichkeit kontrollierbar zu machen, z.B. durch ein Euro-Parlament, das als Teil des Europa-Parlaments agieren könnte.
Überdies ist neuerdings – auch vom französischen Wirtschaftsminister Emmanuel Macron – die Institution eines europäischen Finanzministers mit eigenem Budget und erheblichen haushalts-, wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Kompetenzen ins Spiel gebracht worden. Auf längere Sicht brauchen wir sicher auch eine stärkere, aber demokratische kontrollierte institutionelle Integration.
Zugleich müssen wir aber eine Verbindung von nationaler und europäischer Legitimation der gemeinsamen politischen Entscheidungen finden, die für die europäischen Bürger erlebbar ist. Dabei ist zu beachten, dass ein europäischer Finanz- oder Wirtschaftsminister politische Richtungsentscheidungen treffen wird – aktuell vor allem zwischen Austeritäts- und Investitionspolitik – die durchaus umstritten sind. Er wäre keine „neutrale“ Instanz und wird z.B. von Wolfgang Schäuble – anders als von Emmanuel Macron – zur definitiven Verankerung seines strikten Spar- und Haushaltskonsolidierungsmodells propagiert, nicht zur Stärkung von Solidarität in Europa.
Wie Europa Vertrauen wiedergewinnen kann
Weiter zu entwickeln sind koordinierte Politiken, auch im Zusammenhang mit dem Europäischen Semester und hier unter stärkerem Einbezug sowohl des Europaparlaments als auch der nationalen Parlamente, die der Unterschiedlichkeit der Volkswirtschaften in der Europäischen Union gerecht werden. Diese Vielfalt darf nicht auf das deutsche Modell der massiven Fokussierung auf die Exportwirtschaft und auf die „Schwarze Null“ zusammengetrimmt werden. Insgesamt glauben Sozialdemokraten nicht, dass Politik, gerade auch Wirtschaftspolitik, durch rechtliche Regelungen, Kontrollen und Automatismen ersetzt werden kann. Sie kann nur durch gute, aber immer auch revidierbare Regeln besser auf den Weg gebracht und koordiniert werden. Wir bleiben, schon wegen der Vielfalt in Europa und der immer wieder neuen Herausforderungen darauf angewiesen, uns politisch zu verständigen und gemeinsame Lösungen zu finden und zwar partnerschaftlich. Ein „europäisches“ Europa setzt auf die Verantwortungsbereitschaft, die Einsichtsfähigkeit, den Mut und das Engagement aller Europäer anstelle einer deutschen Dominanz.
Vor einer – schwierigen – Änderung der Institutionen und gegebenenfalls der europäischen Verfassung gilt es deshalb zunächst, die faktische wirtschaftliche und finanzpolitische Zusammenarbeit zwischen allen Mitgliedern sowohl der Eurozone als auch der EU aufgeschlossen und verständigungsorientiert voranzubringen. Dazu sind Entscheidungen dringlich, um die gegenwärtigen wirtschaftlichen Diskrepanzen abzumildern und so eine wirtschaftspolitische Kooperation zu erleichtern. Dabei könnte Deutschland wertvolle Hilfe leisten. Dazu brauchen wir Ehrlichkeit, Realismus, Großzügigkeit, Solidarität und historischen Weitblick. Der vorgeschlagene Weg ist „weicher“ als die bisher propagierten harten Kontrollen und scharfen Sanktionen, aber im Sinne einer demokratischen Europäischen Integration letztlich effektiver.
Die Alternative dazu liegt in einem ständig zunehmenden Finanz- und brain drain zugunsten Deutschlands und eines immer kleiner werden „Kerneuropas“ auf Kosten der ärmeren europäischen Nachbarn, die dem von Deutschland propagierten Modell nicht folgen wollen oder können, das die Deutschen wie gesagt selbst nicht praktizieren. Auf deren Kosten würde unser Land zunächst vielleicht besser leben. Folgen freilich könnte – wenn der globale Export einbricht – eine erhebliche wirtschaftliche Einbuße, die uns zeigt, dass für uns alle, auch zur Stabilisierung des deutschen Exports ein wirtschaftlich florierendes Europa hilfreich ist und Finanzausgleiche allemal selbst ökonomisch rechtfertigt. Überdies zöge eine kurzsichtig nationale Politik eine wachsende Abschottung gegen die sozialen Probleme der Nachbarn nach sich, ohne deren Freundschaft Deutschland aber in seine historisch fatale Rolle einer Vormacht zurückfallen würde, die Misstrauen, Feindschaft und Konflikte sät und unser aller Unglück war.
Um das Vertrauen Europas darein zurückzugewinnen, dass es Deutschland nicht nur um seine kurzfristigen nationalen Vorteile geht, sondern um eine gedeihliche Entwicklung der gesamten EU, die eben auch im wohlverstandenen langfristigen Interesse Deutschlands liegt, sollte Deutschland jetzt durch die politische und finanzielle Unterstützung von öffentlichen Gütern, die offensichtlich allen EU–Bürgern zugutekommen (Schuldentilgungsfonds, Investitionsprogramme, EU-weite Arbeitslosenversicherung etc.) die Grundlagen für wechselseitiges Vertrauen in der EU stärken. Nicht zuletzt kann die grenzüberschreitende organisierte Zivilgesellschaft helfen, nachhaltige Investitionsprojekte ohne Korruption zu identifizieren.
XII. Ein „europäisches“ Europa der lebendigen Vielfalt und der Freude
Nur so können wir ein „europäisches“ Europa weiterentwickeln, das sich wieder auf seine humanistischen Werte und seine demokratischen Traditionen besinnt, die in der griechischen Philosophie, in den monotheistischen Religionen und dann in der europäischen Aufklärung ihren Ursprung haben. Nur so kann Europa die Hoffnungen vieler einlösen und seine Aufgabe für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt erfüllen. Dies wäre ein Europa, in dem es – unserer Europa-Hymne gemäß – Freude bereitet zu leben.
Andreas Botsch, Sebastian Dullien, Detlev Ganten, Jörg Hafkemeyer, Klaus Harpprecht, Uwe-Karsten Heye, Dierk Hirschel, Gustav Horn, Henning Meyer, Wolfgang Roth, Dieter Spöri, Angelica Schwall-Düren, Gesine Schwan, Ernst Stetter, Heidemarie Wieczorek-Zeul.
F.d.R.: Gesine Schwan