von Dietmar Köster
Alle Mächte des Neoliberalismus haben sich gegen es zusammengefunden: Die Boulevard-Presse, die Frankfurter Allgemeine, CSU und CDU und FDP, ein gescheiterter Parteivorsitzender und einige andere. Einige Beiträge, die in dem Urheber dieser Debatte den neuen „Arbeiterschreck“ sehen, erwecken den Eindruck, als wolle die SPD den Arbeiter*innen jetzt tatsächlich ihre Villen im Tessin wegnehmen, wie der Grafiker Staeck in den 1970er Jahren auf einem Plakat ironisch festhielt.
Anlass für diese hysterische Diskussion ist die Äußerung des Juso-Bundesvorsitzenden, Kevin Kühnert, der in einem Interview mit der Zeit gefragt wurde, was er sich unter Sozialismus vorstelle. Dabei dachte er auch über eine „Kollektivierung von BMW“ nach. Das reichte, um alte Zerr- und Hassbilder über die Sozialdemokratie wieder aus der verstaubten Mottenkiste zu holen. Sie folgen dem reaktionären Motto der 1950er Jahre, demzufolge alle Wege des Sozialismus nach Moskau führten. So wird jetzt ernsthaft gefragt, wieviel DDR in der SPD stecke. Obwohl die Sozialdemokratie in der Nachkriegsgeschichte Opfer der DDR-Despotie wurde.
Doch was ist überhaupt der Inhalt des Interviews? Kevin Kühnert geht es weniger um eine tagespolitische Forderung. Er verfolgt ein anderes Anliegen: Zu Recht weist er auf Fehlentwicklungen des Kapitalismus in Form von sozialer Ungleichheit, mangelnder Wirtschaftsdemokratie und fehlender Verteilungsgerechtigkeit hin. Und in dieser Hinsicht zieht er die mögliche „Kollektivierung“ von BMW in Betracht und betont: „Was unser Leben bestimmt, soll in der Hand der Gesellschaft sein und demokratisch von ihr bestimmt werden. Eine Welt, in der Menschen ihren Bedürfnissen nachgehen können. Eine Demokratisierung aller Lebensbereiche“. Wohlgemerkt: Es geht ihm darum, Gedanken über eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus zu entwickeln. Seine Überlegungen finden dabei auch in der SPD größere Unterstützung als gemeinhin angenommen: „In einer Online-Umfrage des Instituts Civey befürworten 49 % der SPD-Anhänger Kühnerts Vorschläge“ (FAS, 5.5.2019).
Die neoliberale Gehirnwäsche der letzten Jahre, die den Markt als allein selig machendes Instrument für Wohlstand und Gerechtigkeit betrachtet, zeigt aber bei dem einen oder anderen stärkere Wirkung. Dass die mögliche Vergesellschaftung von Produktionsmitteln im Artikel 15 des Grundgesetzes steht, wird überwiegend ausgeblendet. So benennt Artikel 14 Grenzen bei der Nutzung des privaten Eigentums: “Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Und weiter: “Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.“
Ob der Gebrauch des kapitalistischen Privateigentums immer dem Wohle der Allgemeinheit dient, darf bezweifelt werden, wenn zum Beispiel der Chef von Daimler Benz mit einer täglichen Rente von 4.250 Euro kalkulieren kann, während knapp 48 Prozent der Rentner*innen eine gesetzliche Rente von weniger als 800 Euro monatlich erhalten. Ein weiteres Beispiel: Die größten Anteile von BMW besitzen die Familie Quandt, der 21 Milliarden US Dollar (Susanne Klatten) und 18,4 Mrd (Stefan Quandt) gehören. 2018 haben sie zusammen mehr als eine Milliarde Euro eingenommen, was dem Einkommen von 10.000 Arbeitnehmer*innen von BMW entspricht. Drei Millionen Euro jeden Tag. Ohne Eigenleistung, einfach weil sie es geerbt haben. Was ist daran falsch, wenn Kühnert die Forderung stellt: „Die Verteilung der Profite muss demokratisch kontrolliert werden“.
Wenn der Kapitalismus weltweit eine Ungleichheit erzeugt, wonach die 26 reichsten Menschen der Welt ein Vermögen verfügen wie die ärmere Hälfte der gesamten Weltbevölkerung, und zugleich 900 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser haben, dann läuft da etwas grundlegend falsch.
Der französische Ökonom Thomas Piketty legt in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ dar, dass die Ungleichheit ein Ausmaß angenommen hat wie vor 100 Jahren. Es wird immer offensichtlicher, dass das privatkapitalistische Eigentum dem Allgemeinwohl immer weniger verpflichtet ist. Das hat sich mittlerweile herumgesprochen: So beklagen 80 Prozent der Deutschen die zunehmende soziale Ungleichheit. Das Thema der Verteilungsgerechtigkeit wird immer dringender.
Während Kevin Kühnert nur über die Möglichkeiten von Vergesellschaftung nachdenkt, führt der Kapitalismus durch seine Verhältnisse immer wieder ganz praktisch zu Enteignungen. In der Finanzmarktkrise in 2008 hatte sich die Commerzbank so verspekuliert, dass sie in staatliches Eigentum überführt werden musste. Jede kapitalistische Krise führt zu Unternehmenspleiten, die nichts anderes bedeuten, als die Enteignung ihrer Besitzer. Und Verkehrsminister Scheuer führt momentan 65 Enteignungen durch, um Straßen bauen zu können.
Das Thema der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln erfreut sich auch in anderen Kontexten zunehmender Aufmerksamkeit, wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive. In Berlin gibt es die Volksinitiative zur Enteignung der „Deutschen Wohnen“, um bezahlbare Wohnungen zu schaffen. Dagegen forderte die FDP auf ihrem letzten Parteitag die Streichung des Vergesellschaftungs-Artikels 15 aus dem Grundgesetz. Die FDP stört bei ihrer Forderung nicht, dass dieser Artikel zu den Grundrechten zählt, die in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden dürfen, wie es in Artikel 19 heißt. Die öffentliche Empörung über dieses Vorhaben blieb weitgehend aus.
Den Hohepriestern des Marktes geht es darum, eine Brandmauer gegenüber der Vergesellschaftung von großen Unternehmen zu errichten. Weiter verfolgen sie das Ziel, letztlich den grundlegenden Charakter des Grundgesetzes zu ändern. Der besteht darin, dass die Verfassung einen Kompromiss zwischen Markt und Sozialstaat darstellt. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urteilen festgehalten, dass das Grundgesetz eben nicht die Festlegung einer Wirtschaftsordnung vorsieht. Mit der Abschaffung oder Diskreditierung des Vergesellschaftungsartikels wird aber versucht, die Verfassung umzuinterpretieren: Der Marktwirtschaft soll quasi alleiniger Verfassungsrang zugeschrieben werden. Damit soll der Entfesselung des Marktes wieder mehr Raum geben werden. Weitere gesellschaftliche Bereiche sollen den Marktprinzipien unterworfen werden, in denen der Gewinnerwartung alles untergeordnet wird und die Bedarfe der Menschen nach einer guten Daseinsvorsorge nur noch zweitrangig sind. Sozialstaatliche Regeln und Rechte von Arbeitnehmer*innen sollen weiter zurückgedrängt werden.
Vor diesem Hintergrund ist die Initiative einiger Betriebsräte aus der Autoindustrie gegen den Debattenbeitrag von Kevin Kühnert ein perfektes Eigentor. Mit ihrer Initiative schützen sie nicht nur den Reichtum der Eigentümer, sondern bereiten selbst einer Entwicklung den Boden, auf dem Rechte von Arbeitnehmer*innen zurückgedrängt werden. Solche Betriebsräte nutzen den Arbeitnehmer*innen wirklich nicht. Sie könnten an die Satzung der IG-Metall vom 1. Januar 2016 erinnert werden: Das Ziel der Gewerkschaft ist die „Erringung und Sicherung des Mitbestimmungsrechts der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Betrieb und Unternehmen und im gesamtwirtschaftlichen Bereich durch Errichtung von Wirtschafts- und Sozialräten“ sowie die „Überführung von Schlüsselindustrien und anderen markt- und wirtschaftsbeherrschenden Unternehmungen in Gemeineigentum“. Das scheint die Betriebsräte wenig zu interessieren. Ihre Intervention erinnert an einige Tiefpunkte in der Geschichte der Arbeiterbewegung, als beispielsweise in den 1970er Jahren einige von ihnen für die Atomenergie demonstrierten.
Auch die historischen Zusammenhänge über den Artikel 15 des Grundgesetzes bleiben unberücksichtigt. Nach der Befreiung vom Faschismus gab es in Deutschland ein breites Verständnis darüber, dass es einen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Nazi-Barbarei gab. Max Horkheimer meinte bereits 1939, „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Selbst die CDU forderte in ihrem Ahlener Programm die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien. Darüber nachzudenken, welche Zusammenhänge es zwischen dem Erstarken von Rechtsextremismus und Kapitalismus heute gibt, wäre dringend geboten.
Vor diesem Hintergrund muss man Kevin Kühnert dankbar dafür sein, eine notwenige Debatte über die Zukunft unserer Gesellschaft angestoßen zu haben. Den Artikel 16 des Grundgesetzes als neues Gespenst an die Wand zu malen, bedeutet, Ängste zu schüren. Eine ernsthafte Debatte über die sozial-ökologische Transformation einer Gesellschaft zu führen, die immer stärker ihre Grenzen erreicht, wie beispielsweise in der Finanzmarkt-, Klima- und der Ungleichheitskrise, ist dringend geboten.