Im Rausch der Mythen: Das Impulspapier des SPD-Präsidiums

Veröffentlicht am 28. August 2015

von Michael Wendl

Für einen auch für alle Mitglieder offenen Parteitag am 10. Oktober 2015 hat das SPD-Präsidium einen Leitantrag zur Diskussion gestellt, der inzwischen in den Gremien der SPD kursiert.

Das Impulspapier der SPD lebt von der Kraft des optimistischen Selbstbetrugs. Diese Kraft sollte nicht unterschätzt werden, weil sie es möglich macht, dass die Partei, die aus einer ökonomischen und sozialen Sicht durchweg negativen Folgen ihrer Regierungszeit (insbesondere der Jahre 1999 bis 2005) als zwar schmerzliche, aber letztlich objektiv notwendige Opfer verklären kann. Der Misserfolg ihrer Politik, die Abwahl 2005, kann so im Rückblick noch als eine Art von uneigennütziger Opfergang erscheinen.

Ein seltsamer Optimismus

Die Spitze der SPD konstruiert durch ihre Suche nach Übereinstimmung mit den oberflächlichsten Alltagserfahrungen in der Bevölkerung mehrere Mythen: Es wird konstatiert, dass Deutschland 25 Jahre nach dem Fall der Mauer „wirtschaftlich stark“ dastehe (S. 5). Sie registriert eine gesunkene Quote der Staatsverschuldung, einen ausgeglichenen Staatshaushalt und lobt ein kluges industrielles Innovationsmodell, das gepaart mit einer internationalen Wertschöpfungskette zu einer „beispiellosen Exportstärke“ geführt habe. Offensichtlich gelten diese Begriffe der SPD-Spitze als Merkmale eines erfolgreichen Wirtschaftens. Zugleich fällt auf, dass der Blick einer Gesellschaft in einer Währungsunion nur auf eine Volkswirtschaft in dieser Union zielt und die anderen Volkswirtschaften und deren Zustand aus dem Blick geraten sind. Aus einer makroökonomischen Sicht ist diese Konzentration auf Deutschland allein wissenschaftlich völlig wertlos, weil mit dieser Fokussierung auf die Bundesrepublik die Frage, ob Deutschlands relative Stärke auch auf der relativen Schwäche der anderen Gesellschaften in dieser Union basiert, völlig aus dem Blickfeld gerät oder in einer sehr schiefen Weise, nämlich als Resultat eines für Deutschland erfolgreichen Wettbewerbs zwischen den verschiedenen Nationen in der Währungsunion, wahrgenommen wird.

Sozialdemokratische Mythen

Im Text werden von Anfang an Mythen erzählt: es beginnt mit dem Mythos von der starken deutschen Wirtschaft und den soliden deutschen Staatsfinanzen. Diese Mythen sind mehr als Narrative, es geht nicht nur um die Konstruktion einer großen Erzählung, sondern mit dem Mythos wird eine Geschichte überhöht und in den Status eines Tatbestands, auf den wir stolz sind, weil wir Teil dieses Mythos sind, erhoben. Dieser Mythos trägt im Unterschied zu einer Erzählung etwas Irrationales mit sich, das an natürliche, aber vorrationale Empfindungen anzuknüpfen versucht. Wann ist eine Wirtschaft stark und wann sind Staatsfinanzen solide? Vielleicht ist die deutsche Wirtschaft mit ihrer hohen Exportabhängigkeit in hohem Maß fragil und möglicherweise sind die Staatsfinanzen angesichts einer verrottenden Infrastruktur gerade nicht solide?

Hinter dieser Wahrnehmung steht der zweite Mythos: die Erzählung von den erfolgreichen, wenn auch schmerzlichen Reformen. Der ökonomischen Bedeutung halber müssen die Steuerreform 2000, die Bundesfinanzminister Eichel konzipieren ließ, ebenso beachtet werden wie die mit dem Namen des Bundesarbeitsministers Riester verbundene Rentenreform. Erst danach kommen die bekannteren oder berüchtigteren Arbeitsmarktreformen, die mit dem Namen von Peter Hartz verbunden werden. Die Wirkungen dieser drei Reformen waren in makroökonomischer Sicht desaströs, nicht nur in der kurzen Frist, also in den Jahren unmittelbar nach ihrer Durchsetzung, sondern auch in langfristiger Sicht. Ihre Wirkungen gelten noch bis heute und wir können sehr kontrovers darüber streiten, ob diese Wirkungen positiv oder negativ sind. Der Mythos, der hier beschworen wird, besteht in einem Appell an das übliche Vorurteil.

Dass die desaströsen Folgen dieser drei Reformpakete außer den direkt Betroffenen (also Rentnern und Arbeitslosen) und der mittelbar betroffenen Bevölkerung in anderen Ländern der Eurozone niemandem ins Auge springen, liegt an der weitgehenden Ausblendung der Folgen dieser Politik. Ein weiterer Grund dafür ist die Position in der Währungsunion: Die tiefe Spaltung in der Eurozone wird verleugnet bzw. als Folge eines Wettbewerbs zwischen europäischen Nationen verdreht, den Deutschland gewonnen und die anderen Länder verloren haben, weil sie in dieser Zeit diese schmerzhaften Reformen im Sozial- und Steuerstaat und auf dem Arbeitsmarkt gerade nicht gewagt hätten. Deshalb müssten sie im Nachhinein gezwungen werden, nachzuarbeiten, anders gesagt, ihre Hausaufgaben endlich zu machen.

Die fatalen Effekte der sozialdemokratischen Reformen

Beginnen wir mit einer Reform, deren Bedeutung und langfristige Folgen weitgehend unterschätzt werden. Es geht um die Effekte der Unternehmenssteuerreform, die nach dem Scheitern von Oskar Lafontaine unter der Verantwortung von Hans Eichel durchgesetzt worden ist. Sie bestand nicht nur aus einer massiven Steuerentlastung der deutschen Unternehmen und den daraus resultierenden Einnahmeverlusten der Gebietskörperschaften, sondern zugleich über die Steuerfreiheit bei Beteiligungsveräußerungen aus einer deutlich gestiegenen Attraktivität des Standorts Deutschland für zufließendes internationales Kapital. Das hat zu einer Entflechtung der sog. Deutschland AG, also der Beteiligung deutscher Großbanken an den großen industriellen Aktiengesellschaften in Deutschland geführt. Bereits zu Beginn der Währungsunion hatte Deutschland damit einen Steuerwettlauf der Nationen um sinkende Unternehmenssteuern eingeleitet, dem andere Länder dann gefolgt waren. Das war zunächst aus Sicht der SPD nicht beabsichtigt, weil Oskar Lafontaine im Gegenteil den Wegfall bestimmter Steuerprivilegien der Atom- und der Versicherungswirtschaft und insgesamt eine effektivere Besteuerung der Unternehmen ins Auge gefasst hatte. Nach dem Ausscheiden von Lafontaine und seinen Beratern wurde dann durch Eichel und seinen Steuerstaatssekretär Heribert Zitzelsberger ein völlig anderes teilweise geradezu skurriles Besteuerungsverfahren (manche werden sich noch an das später wieder beseitigte unsinnige „Halbeinkünfte-Verfahren“ erinnern) durchgesetzt, ein Konzept, dessen offen negative Folgen, wie z.B. der zeitweilige Wegfall des kompletten Ertrags der Körperschaftssteuer den zuständigen Finanzminister selbst überrascht hatten und das in der SPD selbst bis heute nicht verstanden worden ist (1). Mit der steuerlichen Entlastung der Unternehmen, die dann in der großen Koalition 2008 durch Steinbrück modifiziert und noch ein Stück weit radikalisiert wurde (eine Absenkung des Körperschaftssteuersatzes für nicht entnommene Gewinne von 45, für entnommene Gewinne von 35 auf letztlich einheitlich15%) wurden nicht nur die Wettbewerbsbedingungen in der Währungsunion zugunsten deutscher Unternehmen deutlich verschoben, sondern zugleich auch in die Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte massiv eingegriffen, was in der kurzen Frist zum Verstoß gegen die Haushaltskriterien des Vertrags von Maastricht und mittelfristig zum Verfall der öffentlichen Infrastruktur und zu einem massiven Lohndruck im öffentlichen Sektor führte. Damit war aber auch verbunden, dass die fiskalpolitischen Spielräume, in der weltweiten Konjunkturkrise nach 2002 antizyklisch zu reagieren und damit den Anstieg der Arbeitslosigkeit abzubremsen, zusätzlich, also über diese makroökonomisch unsinnigen Maastricht-Kriterien hinaus, äußerst eng waren. Diese fiskalpolitische Untätigkeit wurde sogar als „Politik der ruhigen Hand“ zu glorifizieren versucht. Der bewusste Verzicht darauf, den Anstieg der Arbeitslosigkeit mit fiskalpolitischen Mitteln einzufangen, führten dann im Laufe des Jahres 2002 dazu, die Ursachen der gestiegenen Arbeitslosigkeit als Folge eines unzureichend flexiblen Arbeitsmarktes sozusagen neoklassisch umzudeuten und auf eine grundlegende Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zu setzen. Die Hartz-Kommission wurde ins Leben gerufen. Das entsprach einem ökonomischen Alltagsverstand, der die Gründe für den Wechsel von Beschäftigung und Arbeitsmarkt zunächst in der Regulierung des Arbeitsmarktes sieht. Zunächst ließen sich auch die Gewerkschaften in diese versuchte Therapie einbinden. Auch von Seiten der Politikwissenschaft wurde dieser Übergang in das neoklassische Paradigma unterstützt, als Wechsel des entscheidenden theoretischen Leitbildes der Ökonomie wurde er offensichtlich noch nicht einmal verstanden, weil er als quasi notwendiger Modernisierungsprozess der Sozialdemokratie interpretiert wurde (Egle, Ostheimer, Zohlnhöfer 2003, Merkel u.a. 2006).

Die steuerpolitisch durchgesetzte Schwäche der öffentlichen Haushalte wurde ergänzt durch eine doppelte Schwäche der konsumtiven Nachfrage. Einerseits war dies auf die konjunkturbedingt deutlich gestiegene Arbeitslosigkeit zurückzuführen, andererseits war diese Schwäche des Binnenmarkts zum Teil hausgemacht und zwar durch die mit dem Namen von Walter Riester verbundene Rentenreform, weil die Finanzierung einer zusätzlichen kapitalgedeckten Rente zu einer weiteren Schwächung der Nettoeinkommen vieler Arbeitnehmerhaushalte geführt hatte. Aus einer makroökonomischen Sicht war der Anstieg des Anteils kapitalgedeckter Verfahren in der Alterssicherung im Zeitraum eines Konjunkturabschwungs völlig verfehlt, weil dieser Prozess zu einem Anstieg der Ersparnisbildung führen musste und dadurch den Konsum zusätzlich geschwächt hatte. Dieser paradigmenwechsel in der deutschen Sozialpolitik wurde dadurch erleichtert, dass es in dem kurzen Boom der Jahre 1999 und 2000 zu einer fatalen Fehldeutung der positiven Effekte einer kapitalgedeckten sozialen Sicherung gekommen war. Komplettiert wurde diese prozyklische, also krisenverschärfende Politik zusätzlich durch die Geldpolitik der EZB, da deren nominal relativ hohe Leitzinsen in einem in Deutschland tendenziell deflationären Umfeld die realen Zinsen relativ hoch ließen und damit auch zu dem im europäischen Vergleich relativ schwachen Wirtschaftswachstum in Deutschland beigetragen hatten. Kurzfristig beeinflussbar schien für die Regierung in dieser Konstellation daher nur der Arbeitsmarkt zu sein. Die aus einer makroökonomischen Sicht falschen finanzpolitischen und sozialpolitischen Weichenstellungen waren bereits vorher unter den Bedingungen eines konjunkturellen Booms unmittelbar vor der Krise erfolgt. Ihre Verantwortung für den starken Anstieg der Arbeitslosigkeit wurde nur von einer kleinen Minderheit von Ökonomen aufgezeigt. Die Folge war, dass ein Teil der Forscher aus der Konjunkturabteilung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in das 2005 neu gegründete Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) wechselte.

Im Kern waren es die Folgen dieser drei gravierender wirtschaftspolitischer Fehlentscheidungen, die dann zu der Kombination von schwachem Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit von 2002 bis 2005 führten und die Regierung im Herbst 2005 auch die Wahlen verlieren ließ. Zu einer „Erfolgsgeschichte“ sind diese Reformen in der Finanz-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik erst im Nachhinein gemacht worden, kurzfristig, als im Herbst 2005 die konjunkturelle Erholung der Weltwirtschaft auch Deutschlands Exportwirtschaft erreichte und später, als sich nach der Finanzmarktkrise 2008 herausgestellt hatte, dass Deutschland die darauf folgende tiefe Wirtschaftskrise 2008/2009 schneller überwinden konnte als andere europäische Gesellschaften. Eine zeitliche Reihenfolge begründet aber zunächst keine kausale Beziehung. Der Erfolg dieser Erzählung bestand in der Kombination von steter Wiederholung in den Medien einerseits mit der populären Sicht, dass niedrige Löhne zu mehr Beschäftigung führen. Sogar in den Gewerkschaften erzielte dieses Narrativ Wirkungen, weil es durch einzelwirtschaftliche Erfahrungen mit Lohnsenkungsprozessen scheinbar bestätigt wurde.

Das Modell Deutschland schwächt Europa

Dass der deutsche Aufschwung 2006 und danach 2010 seine Ursachen in den Steuer-, Renten- und Arbeitsmarktreformen hatte, dafür fehlen die theoretischen Argumente und die empirischen Belege. Die Untersuchungen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (Horn 2011) zeigen, dass der auf die Konjunkturkrise 2001/2002 folgende konjunkturelle Aufschwung in Deutschland ausgesprochen schwach ausgefallen war und sich bis 2005 verspätet hatte. In der kurzen Frist haben diese Reformen krisenverschärfend gewirkt. Sicher haben diese Maßnahmen in der Folge zu einem in Deutschland besonders hohen Lohndruck beigetragen und die deutsche Politik der Lohnzurückhaltung verstärkt. Aber diese Entwicklung ist gerade keine Erfolgsgeschichte, weil sie unter den Bedingungen einer Währungsunion auf eine innere Abwertung der gesellschaftlichen Arbeit eines Landes hinausläuft und faktisch wie eine Subventionierung der deutschen Arbeitskräfte durch eine Strategie der Lohnzurückhaltung wirkt. Hätten die anderen Gesellschaften sich ebenso wie Deutschland verhalten, so wären die europäischen Märkte für deutsche Produkte entsprechend enger gewesen. In der Folge der Weltwirtschaftskrise stellt sich dieses Enger-Werden der europäischen Märkte auch ein. Es wird einerseits verstärkt durch die von Deutschland gegenüber bestimmten Ländern verordnete Kur der Haushaltskonsolidierung und der Senkung von Löhnen und Sozialeinkommen. Allerdings werden die ökonomisch restriktiv wirkenden Effekte dieser Politik verdeckt durch den im System der Target2-Salden versteckten Prozess der Geldschöpfung und Kapitalübertragung der nationalen Bankensysteme im System der Europäischen Zentralbanken. Unter dem Strich hat die politische Hegemonie des deutschen Modells in der Währungsunion zu spürbaren Wachstums- und Wohlfahrtsverlusten in der Eurozone und darüber hinaus in der Weltwirtschaft geführt, weil von der Währungsunion ab 2010 eher dämpfende Effekte auf die Weltwirtschaft ausgegangen waren.

Insofern ist das Modell des deutschen Kapitalismus gerade nicht „stark“ und ebenso nicht nachhaltig. Permanente hohe Überschüsse in der Leistungsbilanz sind nur möglich, wenn auf der anderen Seite der Bilanz entsprechende Defizite stehen. Diese müssen finanziert werden und werden zu einem Teil auch durch Geldschöpfung aus dem Nichts finanziert. Leistungsbilanzüberschüsse sind ein Export von Kapital aus dem Bilanzüberschussland in Länder mit Bilanzdefiziten. Die spannende Frage dabei zielt auf die Verwendung des exportierten Kapitals. Ein Teil davon wird abgeschrieben werden müssen, weil die anderen Gesellschaften verordnete Austeritätspolitik nicht zu einer ökonomisch prosperierenden Konjunktur führen kann und daher die deutsche Exportindustrie ihre Abhängigkeit von den europäischen Märkten deutlich zu verringern sucht, was zu einem Teil auch funktioniert hat, aber neue Abhängigkeiten insbesondere zu den sich rasch industrialisierenden Schwellenländern aufgebaut hat. Eine schwere Krise des chinesischen Entwicklungsmodells wird für eine überzogen exportorientierte Ökonomie ohne einen starken Binnenmarkt spürbare Folgen haben.

Der deutsche Kapitalismus ist allerdings in den vergangenen Jahrzehnten ein Produktionskapitalismus geblieben, seine „Finanzialisierung“ ist im Vergleich zu anderen Wirtschaftsgesellschaften, wie den USA oder Großbritannien wenig ausgeprägt. Insofern partizipiert er durch die Produktion von Investitionsgütern und hochpreisigen Konsumgütern von der weiteren forcierten Industrialisierung der Weltwirtschaft stärker als andere „reife“ kapitalistische Gesellschaften (2). Andererseits blockiert er durch seine Strategie eines „Beggar the neighbour“ eine prosperierende ökonomische Entwicklung in der Währungsunion selbst und sorgt durch seine politische Dominanz in der Europäischen Kommission dafür, dass sich die politische Blockade des Wachstums in der Eurozone, sowohl fiskalpolitisch, wie geldpolitische weiter vertieft. Durch die deutsche Dominanz in fiskalpolitischen Fragen, also das strikte Verbot einer Staatsfinanzierung durch die Geldpolitik der EZB werden die in der Geldpolitik liegenden Möglichkeiten einer Steuerung der Konjunktur nicht genutzt.

Dafür politisch verantwortlich ist der deutsche Neokonservativismus unter Merkel und Schäuble mit seiner Orientierung an den verbohrten, einzelwirtschaftlichen Einstellungen des deutschen Besitz- und Bildungsbürgertums, das auch die herrschenden Lehrmeinungen der Ökonomen prägt. Es ist kein Zufall, dass in einer solchen Situation die Moral- und Tugendlehre des deutschen Ordoliberalismus wieder populär wird und in Deutschland die international übliche neukeynesianische Mehrheitsposition an den Rand gedrängt hat, bis weit in die SPD und die politische Linke hinein (Wagenknecht 2011). Ordoliberale Ökonomen und konservative Politik können sich wechselseitig stabilisieren bzw. sogar radikalisieren, wie das die Verhandlungen über die Umschuldung Griechenlands aktuell gezeigt haben. Es wäre die historische Aufgabe der SPD gegenüber diesen Prozessen ein politisches, aber auch ökonomietheoretisches Gegengewicht zu bilden. Die aktuelle Führung der SPD steht aber nicht nur unter dem Eindruck des politischen Erfolgs dieser konservativen Ideologie, sie teilt in zentralen Fragen auch die diesen Erfolg vorausgehenden ideologischen Fixierungen. Das Impulspapier ist tief durchtränkt von dieser Ideologie, weil der SPD insgesamt die mit dem Namen von Keynes und anderen Ökonomen verbundene makroökonomische und internationale Perspektive weitgehend verloren gegangen ist. Dieser Verlust wird sich in absehbarer Zeit auch nicht ausgleichen lassen, weil es der Partei dafür an intellektueller Substanz in ökonomischen Fragen fehlt. In der SPD selbst ist dieses Impuls-Papier nicht mehrheitsfähig, weil Teile der Partei wissen, dass eine solche Positionsbestimmung die politische subalterne Rolle der SPD gegenüber den Unionsparteien fortschreiben wird. Allerdings wird die SPD der Auseinandersetzung mit ihrer Reformgeschichte der Jahre 1999 bis 2005 weiter aus dem Weg gehen, weil diese Auseinandersetzung die Partei zerreißen würde. Die fällige Debatte wird daher über die Person des Kanzlerkandidaten geführt werden. Ein gutes Zeichen ist das nicht.

 

(1) Diese drei Reformen, die Steuer-, die Renten- und die Arbeitsmarktreformen basieren nicht auf sozialdemokratischen Diskursen. Sie sind quasi von außen gekommen, auch wenn sie von Sozialdemokraten dann gegen den innerparteilichen Widerstand durchgesetzt wurden. Am Beispiel der Rentenreform hat dies Diane Wehlau nachgezeichnet (Wehlau 2009), am Beispiel der Hartz-Reformen Anke Hassel und Christof Schiller, wenn auch überwiegend unkritisch (Hassel, Schiller 2010, zur Kritik Wendl 2011). Für die kritische Darstellung der rot-grünen Steuerreform siehe Achim Truger 2009. Allerdings war dieser Widerstand durch den Weggang von Lafontaine aus den Führungspositionen als Minister und Parteivorsitzender und durch die Uneinigkeit in den DGB-Gewerkschaften geschwächt. Alle drei Reformen sind bezogen auf das dahinter stehende ökonomische Paradigma neoklassisch inspiriert, aber sie sind in ihrer Intention nicht neoliberal, weil sie auf eine Neukonturierung des Steuer- und Sozialstaates zielen, die dessen Wirkungen effektiver machen sollen. Dieser Schein machte die Reformen erträglich. Allerdings ist die dahinter stehende ökonomische Sicht einzelwirtschaftlich geprägt und daher, wenn sie sich makroökonomisch versteht, strikt neoklassisch. Die Akteure begründen ihre Sicht aber nicht dogmengeschichtlich, sondern mit ihren ökonomischen Alltagserfahrungen.

(2) Finanzgetrieben ist der Kapitalismus grundsätzlich und von Anfang an. Insofern muss die Theorie des finanzgetriebenen Kapitalismus zunächst begründen, von welchem anderen Kapitalismus sie sich wie unterscheidet. Interessant am deutschen Kapitalismus ist dagegen die relative Konstanz des deutschen Modells eines exportgetriebenen Kapitalismus, dessen außenwirtschaftlicher Erfolg auf einer Kombination von interner Lohnzurückhaltung und Mitbestimmung basiert. Diese Kombination und ihre historischen und institutionellen Voraussetzungen konnten noch nicht einmal Schröder, Eichel und Riester zerstören, obwohl sie sich dabei bemüht haben (siehe Abelshauser 2003).

Literatur:

Werner Abelshauser, Kulturkampf, Berlin 2003

Christoph Egle, Tobias Ostheim, Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Das rot-grüne Projekt, Wiesbaden 2003

Anke Hassel, Christof Schiller, Der Fall Hartz IV, Frankfurt/M. 2010

Gustav Horn, Des Reichtums fette Beute, Frankfurt/M. 2011

Wolfgang Merkel, Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim, Alexander Petring, Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie, Wiesbaden 2006

Achim Truger, Ökonomische und soziale Kosten von Steuersenkungen: Das Beispiel der rot-grünen Steuerreform, in Prokla 154 (39. Jhrg. Heft 1, 2009)

Sahra Wagenknecht, Freiheit statt Kapitalismus, Frankfurt/M. 2011

Diane Wehlau, Lobbyismus und Rentenreform, Wiesbaden 2009

Michael Wendl, Tunnelblick auf den Arbeitsmarkt, in: Sozialismus 6/2011

 

Michael Wendl ist Soziologe und arbeitet für die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in München

 

Der Text ist in der Septemberausgabe von „Sozialismus“ erschienen.